Akute HIV-Infektion: Behandeln oder nicht? Und wenn ja, wofür?

Zum einen unterstützen Studienergebnisse Empfehlungen zur frühzeitigen Kombitherapie im Hinblick auf eine langfristig besser erhaltene HIV-spezifische Immunantwort und die allgemeine Immunfunktion HIV-positiver Menschen. Andererseits können derzeit keine zuverlässigen Aussagen über den langfristigen Vorteil einer sehr frühen Therapie bei akuten HIV-Infektionen für die einzelne Patientin bzw. den einzelnen Patienten getroffen werden. Es stellt sich hier unter anderem die Frage, ob der individuelle gesundheitliche Vorteil für HIV-Positive im Vordergrund steht oder eine Strategie zur Reduktion des Transmissionsrisikos für HIV.

(Zusammenfassung der Kontroverse 7: Bernd Vielhaber)

  • Referenten der Kontroverse waren Dr. Stefan Scholten, Praxis Hohenstaufenring, Köln und Prof. Dr. Hans-Jürgen Stellbrink, Infektiologisches Centrum Hamburg (ICH).

  • Stefan Scholten eröffnete seine Argumentation mit einer Analogie. 1953 hatte eine Sturmflut weite Teile der Niederlande unter Wasser gesetzt. Die Katastrophe wurde in den Niederlanden zum Auslöser eines beispiellosen Hochwasserschutzprogramms, des Delta-Plans. Die seeländische und südholländische Küste wurde durch die Anlage von Hunderten Kilometern neuer Deiche befestigt und die breiten und tiefen Mündungen von Maas und Schelde mittels Schleusen und Wehren von der See abgeriegelt. Scholten meinte, die HIV-Infektion sei mit dieser Flut vergleichbar. Sei jemand frisch infiziert, könne man das zwar nicht aufhalten – so, wie man die Flut auch nicht aufhalten könne. Aber man könne den negativen Folgen der HIV-Infektion/der Flut begegnen eben mit einer sofortigen HIV-Therapie bzw. – um im Bild zu bleiben – mit den Deichen und Flutwehren.

    Anschließend stellte er einen Fall eines Frischinfizierten mit einer Viruslast von 10 Millionen und einer CD4-Zellzahl von 283 Zellen vor, bei dem sie sich entschieden hätten, mit einer HIV-Therapie zu beginnen. In seiner Praxis würde in derartigen Fällen üblicherweise mit einer intensiven Therapie begonnen (in diesen und den anderen gezeigten Fällen mit der Vierfachkombination Truvada, geboostetes Prezista und Isentress), die nach einer gewissen Zeit unter der Nachweisgrenze vereinfacht würde (das geboostete Prezista wurde weggelassen, die anderen Kombinationspartner weitergegeben oder in einem Fall die gesamte Therapie gegen Atripla ausgetauscht). Scholten argumentierte, dass (nicht nur bei ihren Patienten, sondern mittlerweile auch in Studien) gezeigt werden konnte, dass ein so frühzeitiger Therapiebeginn zu einer – im Vergleich zu einem späteren Therapiebeginn – stabil und langfristig höheren Helferzellzahl führt. Diese Studiendaten haben dazu geführt, dass 2013 die HIV-Therapie-Leitlinien des amerikanischen Gesundheitsministeriums einformuliert worden ist, dass jedem Patienten mit einer akuten HIV-Infektion eine HIV-Therapie angeboten werden soll.

    Als weiteres Argument verwies Scholten auf eine Studie, die zeigen konnte, dass eine HIV-Therapie in den ersten Tagen der frischen Infektion (Fiebig-Stadien I – III) dazu führt, dass nach einem halben Jahr die Anzahl der latent infizierten Immunzellen (auch als Reservoir bezeichnet) deutlich geringer ist, als bei Unbehandelten oder später Behandelten.

    Scholten zeigte weitere grafisch aufbereitete Daten aus dieser Studie. Er erklärt, dass dieser geringere Befall des Immunsystems gleichzusetzen sei mit einer geringeren Zerstörung des Immunsystems und dass das unter HIV-Therapie zu einer effektiveren Restaurierung der Immunkompetenz führe.

    Als Beweis für diese eher theoretischen Überlegungen führt die VISCONTI-Studie an: In dieser Studie (sie war keine prospektive, kontrollierte Studie, sondern eine Beobachtungsstudie) wurden HIV-Patienten über fünf Jahre beobachtet. Ein Teil von ihnen hat in der frischen Phase ihrer HIV-Infektion HIV-Therapie bekommen, ein Teil innerhalb der ersten sechs Monate und bei einem Teil ist die Therapie nach den CD4- bzw. Viruslast-Vorgaben von Leitlinien initiiert worden. Etwa 0,5 % der unbehandelten Patienten hatten über den Beobachtungszeitraum niemals eine Viruslast höher als 400 RNA-Kopien/ml und wurden als HIV-Controller (HIC) bezeichnet. Bei denjenigen Patienten, die in der frischen HIV-Infektion behandelt worden waren und anschließend über mehr als ein Jahr ihre Therapie absetzten oder unterbrachen, war die Viruslast bei 5 % – 15 % ohne Therapie nie über 400 Kopien. Diese Patienten wurden Post-Treatment Controller (PTC) genannt.

    Scholten fasste die Aussage der Studie aus seiner Sicht wie folgt zusammen: „Wenn ich lange genug behandle, erhalte sich einen Teil des kompetenten Immunsystems so gut, dass sogar HIV kontrolliert wird, und zwar durch das Immunsystem selber.“ Es gebe also einen Effekt, wenn die primäre HIV-Infektion behandelt wird. Deshalb ist er der Überzeugung, dass einem HIV-Patienten mit einer frischen HIV-Infektion auf jeden Fall eine HIV-Therapie angeboten werden soll. Er meinte jedoch, dass man derzeit zu wenig darüber wisse, wie man PCT vorhersagen könne. Da 85 % - 95 % der Patienten beim Absetzen der Therapie den Nutzen der frühzeitigen HIV-Therapie wieder verlieren, sein ein späteres Absetzen der Therapie nach heutigem Wissensstand nicht zu empfehlen.

    Auf Nachfrage ergänzte Scholten den Aspekt der Heilung: Er sei der festen Überzeugung, dass die Verhinderung der Besiedlungen von Reservoiren bzw. eine möglichst effektive Begrenzung der Größe dieser Reservoire die Voraussetzung für eine Heilung ist. Frühzeitig behandelte Patienten seien am ehesten die Kandidaten, die vielleicht irgendwann einmal geheilt werden könnten.

    Dr. Stefan Scholten | Köln

  • Hans-Jürgen Stellbrink dankte Stefan Scholten dafür, dass er bereits alle Daten präsentiert habe, die er benötige, um ihn zu widerlegen. Man könne nämlich aus den Daten zu einer gegenteiligen Überzeugung gelangen. Polemisierend fragte er, warum Scholten früh mit der Therapie beginnen wolle und meint: „Er glaubt an die Wichtigkeit der Helferzellmessung unter Therapie. Er glaubt an die Bedeutung der Messung der HIV-spezifischen Immunabwehr. Er glaubt an die Wichtigkeit der Messung viraler Reservoirs. Er glaubt an die Heilung. Er glaubt, dass die/der PatientIn niemanden mehr infizieren sollte.“ Und ergänzte: „Wer das alles glaubt, glaubt auch an den Yeti!“

    Sich mit den einzelnen Argumenten auseinandersetzend, begann Stellbrink mit der Besiedelung der Reservoire. Er widersprach den Daten nicht, sondern stellte dar, mit welchen Zeitverläufen man es eigentlich bei den Fiebig-Stadien zu tun habe. Das Stadium I beginnt wenige Tage Infektion, liegt vor dem Viruslast-Peak und dauere im Schnitt fünf Tage. Das Stadium II dauert durschnittlich weitere 5,3 Tage, gefolgt vom Stadium III mit durchschnittlich weiteren 5,2 Tagen. Der Viruslast-Peak fällt in die Stadien II und III. Man hat also im Schnitt weniger 20 Tage nach Infektionszeitpunkt, bevor der Patient in das Fiebig-Stadium IV eintritt. Man muss also seine Patienten schon sehr sehr früh sehen, um in diesem Stadium behandeln zu können. Aus seiner Sicht sei das eher unrealistisch. Die meisten Patienten, die mit Beschwerden kommen und eine frische HIV-Infektion haben, seien über das Stadium VI hinaus und insofern zu spät dran.

    Aus Stellbrinks Sicht ist an den bisherigen Studien zur Heilung nichts Realistisches dran. Die meisten sind Laborstudien an Zellkulturen oder genmanipulierten Mäusen. Es gibt derzeit nur einen einzigen geheilten Patienten weltweit.

    Im Weiteren zeigte er Daten der VISCONTI-Studie auf die einzelnen Patienten runtergebrochen und erklärt, dass 1) keiner geheilt ist (alle sind noch HIV-infiziert, bei einigen ist die Viruslast ohne Therapie unter der Nachweisgrenze) nicht bei allen die Viruslast kontinuierlich unter der Nachweisgrenze lag. Das heißt also für die Patienten, dass sie sich ständig zwischen den Polen nicht mehr infektiöse und möglicherweise doch wieder infektiös bewegen würden.

    Stellbrink zeigte, dass die von Scholten als Argument für günstigere Helferzellverläufe bei frühzeitigem Therapiebeginn angeführte Studie aber auch gezeigt habe, dass der Nutzen der einjährigen HIV-Therapie in der primären HIV-Infektion (Nutzen = nach Absetzen der 12monatigen Therapie sinken die Helferzellwerte wesentlich langsamer ab, als bei Menschen, die in der primären Infektion nicht behandelt worden sind) in etwa so lange sei, wie die Therapie gedauert habe. Also: Auf einen Zeitraum von 5 Jahren gerechnet haben beide Gruppen fast gleichlang Therapie genommen. Mit dem Unterschied, dass diejenigen, die in der primären HIV-Infektion behandelt worden sind, sofort mit einer Therapie begonnen haben und diese nach 12 Monaten solange unterbrochen haben, bis die CD4-Werte unter den festgesetzten Wert gesunken sind. Und die andere Gruppe hat solange keine Therapie eingenommen, bis die CD4.Werte unter diesen Wert gesunken sind. Insgesamt hat die erste Gruppe einige wenige Monate weniger Therapie eingenommen, als die zweite.

    Stellbrink ergänzte, dass die Veränderungen der amerikanischen Leitlinien aus primärpräventiven Gesichtspunkten erfolgt seinen. Zwischen 30 % und 50 % der Neuinfektionen werde bei Menschen erworben, die sich in der frischen Phase ihrer HIV-Infektion befänden und sich ihrer HIV-Infektion nicht bewusst seien. Der proportionale Anteil von Frischinfizierten als „Motoren“ des Infektionsgeschehens nehme insofern naturgemäß zu, das jeder erfolgreich behandelte HIV-Infizierte als Überträger ausscheide. Auf eine seiner ersten Folien zurückkommend, resümierte Stellbrink:

    • Er glaubt an die Wichtigkeit der Helferzellmessung unter Therapie -> über 350/µL kein Hinweis auf Relevanz
    • Er glaubt an die Bedeutung der Messung der HIV-spezifischen Immunabwehr -> schwache Korrelation mit der Viruslastkontrolle
    • Er glaubt an die Wichtigkeit der Messung viraler Reservoirs -> trotz nicht detektierbaren Virus in Reservoirs unausweichlich Rebound der Plasmavirämie
    • Er glaubt an die Heilung -> nur 1 dokumentierter Fall unter sehr rabiater Therapie
    • Er glaubt, dass die/der PatientIn niemanden mehr infizieren sollte -> Hoffentlich hat er den PatientIn erklärt, dass nicht sie selbst, sondern jemand anders von der Therapie profitiert!

    Im zweiten Teil seiner Argumentation wendet sich Stellbrink der Frage zu, ob man mit einer frühzeitigen HIV-Therapie auch schaden könne. Längere Behandlungsdauer seien verknüpft mit einem kumulativen Risiko der Resistenzentwicklung (je früher man beginnt, desto länger muss die Therapie halten); einem kumulativen Risiko von Nebenwirkungen (Herz, Knochen, Nieren, Hirn); dem Risiko von schweren Interaktionen mit der Begleitmedikation; der Einschränkung der Lebensqualität, der „Sichtbarmachung“ der Infektion in Familie/Freundeskreis und erhöhten Kosten.

    Dazu komme – wie Stellbrink anhand amerikanischer Datensets zeigte –, dass innerhalb des ersten Jahres (abhängig vom Therapieregime) zwischen 40 % und 60 % der Patienten ihre Therapie wechseln müssten. Selbst bei Verschreibung der derzeit nebenwirkungsärmsten Therapieregime treten Nebenwirkungen auf, die eine Umstellung notwendig machen. Dazu kommen – zwar wenige – Therapieversagen mit Resistenzentwicklung. Aus Sicht von Stellbrink sei es eben nicht so, dass man mit einer Therapie beginne und alles sei gut.

    Wenn aber die Behandlung in der primären HIV-Infektion begonnen würde und man keine Therapieunterbrechungen machen kann – was von Scholten ja auch ausgeschlossen worden war – muss man lebenslang behandeln bzw. lebenslang Medikamente einnehmen. Wegen des sehr frühen Therapiebeginns ist dann nicht mehr beurteilbar, ob die Viruslast vielleicht ohne Therapie niedrig gewesen wäre (und ein Behandlungsbeginn verzögert hätte erfolgen können). Das VISCONTI-Versprechen kann nicht eingelöst werden (weil dann ja experimentell die Therapie abgesetzt werden müsste). Man kann dann nur wegen Heilung absetzen. Therapiepausen haben sich ja, wie die Datenlage gezeigt hat, in mehrfacher Hinsicht eher als sehr schädlich, denn als nützlich herausgestellt.

    Stellbrink fragte, was denn dann noch der Sinn einer frühen Therapie sei? Und schloss seine Gegenthese mit: „Die Gründe für eine ART während der Primärinfektion sind nicht stichhaltig. Sie kann sogar schaden. Und übrigens: Es gibt keinen Yeti!“

  • Scholten verdeutlichte, dass er mit den Patienten die Argumente und Gegenargumente durchdiskutiert, und stellte klar, dass der Patient die Entscheidung trifft. Seiner Erfahrung nach haben die Patienten in dieser Phase durchaus den tief greifenden Wunsch, etwas zu tun und sind daher gut ansprechbar. Eine lebenslange Medikamenteneinnahme ist kein exklusives Moment der HIV-Infektion, das gilt ebenso etwa für Bluthochdruck. Auch diese Medikamente sind nicht nebenwirkungsfrei. Er gab zu, dass es bisher keine große Langzeitstudie gebe, die den Langzeiteffekt einer HIV-Therapie in der primären HIV-Infektion untersucht habe. Er ist aber der Überzeugung – und das würde er auch seinen Patienten erklären –, dass mit einer frühzeitigen Therapie eher zukünftige Optionen erhalten bleiben.

    Stellbrink zweifelte daran, dass der Patient es wirklich selbst entscheidet. Er meinte, Patienten entschieden in der Regel das, was ihre Behandler ihnen empfählen, weil sie ihren Behandlern die Kompetenz zuschrieben. Es gebe sicherlich ein paar, die ganz dezidierte Vorstellungen hätten, aber das Gros würde – wie Holger Wicht in der Eröffnung ja auch – fragen, was der Arzt ihnen denn empfehlen würde. Stellbrink gab zu, dass er aber – wie Scholten auch – wenn sich ihm ein Patient in der primären HIV-Infektion vorstellen würde, er ihm dezidiert erklären würde, dass es noch ein kurzes Zeitfenster gebe, in dem er sich mit einem Therapiebeginn möglicherweise zukünftige Optionen – sei es Heilung, sei es immunologische Kontrolle ohne medikamentöse Unterstützung – offenhalten könne. Früh heißt, wenn der Antikörpertest noch nicht oder noch nicht komplett positiv ist.

    Zur allgemeinen Klarstellung differenzierte Stellbrink: Patienten mit schwerer symptomatischen primären HIV-Erkrankungen müssen ohne Wenn und Aber sofort behandelt werden. Darüber herrscht Einigkeit.

    Wie später aus dem Publikum angemerkt wurde, hat die VISCONTI-Studie aber gezeigt, dass Menschen mit einer sehr schwer verlaufenen Serokonversionserkrankung diejenigen sind, die von der Frühtherapie profitiert haben. Das ist aber der Bereich, der längst geklärt ist.

    Die eigentliche Kontroverse besteht bei einer asymptomatischen nur sehr oder leicht symptomatischen Serokonversion. (Und bei dieser Patientengruppe kann die VISCONTI-Studie nicht als Argument für eine Frühtherapie herhalten, sondern wäre eher ein Gegenargument, wie aus dem Publikum angemerkt wird.)

    Patienten in einer symptomatischen Serokonversion fliegen eher zufällig auf, entweder über Zufallsbefunde bei routinemäßiger Testung, bei denen unklare Ergebnisse herauskommen (Ak reaktiv, aber nicht positiv) und dann aus welchen Gründen auch immer immer tiefer gegraben würde (Ak-/Ag-Kombitest reaktiv, aber unklar) und schlussendlich eine PCR gemacht wird oder weil sie sich mit einer klaren Risikoeinschätzung vorstellen. Scholten ergänzte, dass im Stadium Fiebig I derzeit nur eine PCR eine Diagnose ermöglicht. Stellbrink setzte nach: Sage man einem Patienten in einer solchen Situation, es solle nächste Woche wiederkommen und man würde dann den Test wiederholen, hieße, genau dieses Zeitfenster verpasst zu haben. Scholten: Ist der Western-Blot positiv, ist per Definition das Stadium der primären HIV-Infektion vorbei.

    Wicht versuchte, das Zeitfenster noch klarer zu bekommen. Scholten meint, etwa 10 bis 12 Tage nach Infektionszeitpunkt würden die Patienten über Gliederschmerzen klagen. Wenn sie mit Hautausschlägen und mit Fieber kämen, sei das etwa zwischen Woche zwei und drei nach der Infektion. Er meinte, man würde – je mehr Frischinfizierte man sehen würde – nachgerade einen Riecher dafür entwickeln. Er bespricht mit den Patienten eine Frühtherapie aus der Serie: Was machen wir, wenn das Ergebnis positiv zurückkommt. Wenn sie zustimmen, bekommen sie schon einen Therapieplan ausgehändigt, bevor die PCR aus dem Labor zurück ist. Am Folgetag sei in der Regel das Ergebnis der PCR da. Der Patient habe also eine Nacht Zeit zu überlegen und im Kollegennetzwerk in Köln sei es sogar möglich, innerhalb dieses Zeitraums dem Patienten zu einer konträren Zweitmeinung zu verhelfen.

    Stellbrink bestätigte, dass sich die meisten Leute in einer solchen Situation für eine Therapie entscheiden. Patienten seien recht schockiert über die Diagnose und wenn dann jemand ihnen eine Behandlungsmöglichkeit anböte, sei das außerordentlich verführerisch. Deswegen sei die Verantwortung der Ärzte in dieser Situation besonders groß, die richtige Empfehlung zu geben.

    Ein Teilnehmer aus dem Publikum merkte an, dass seiner Erfahrung nach doch deutlich mehr Druck ausgeübt wird oder bei den Patienten Druck ankommt, als dargestellt wird. Viele Patienten würden sich überfahren und überfordert fühlen und würden nur folgen, ohne einverstanden zu sein.

    Es wird noch einmal deutlich, dass sowohl die Pro- als auch die Contra-Seite nicht mit wirklich belastbaren Daten für ihre Position aufwarten kann. Die Frage nach einem sofortigen Therapiebeginn scheint also eine Haltungsfrage zu sein, was niemanden befriedigen kann.

    Ein HIV-Behandler aus dem Publikum erweiterte den Blick und fragte unter dem Gesichtspunkt des systemischen inflammatorischen Prozesses, ob es nicht allein schon deshalb Sinn machen würde, die Virusvermehrung so schnell und zügig wie irgend möglich zu blockieren, um diesen Prozess zu unterbrechen.

    Stellbrink meinte dazu, Therapie sei immer Risikomanagement. Ein Arzt muss dafür Sorge tragen, dass die Therapie nicht mehr Schaden anrichtet, als die Krankheit. Er glaubt nicht, dass die derzeitige Therapie in jeder Hinsicht sauber und unbedenklich ist. Er meinte, man müsse für eine Therapie eine klare Zieldefinition haben, was strebe man eigentlich mit der Therapie an? Schwer symptomatische Patienten würden mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit immundefizient werden und daher sähe er hier kein Problem, die auch sofort unter Therapie zu setzen. In der Gruppe der asymptomatischen Serokonverter verbergen sich aber eine ganze Reihe von Patienten, die längerer Zeit ohne Therapie leben könnten. Bei den Patienten müsse man sich die Entscheidung etwa schwerer machen.

    Scholten gab zu, das diese Patienten, setzte man sie unter Therapie, möglicherweise übertherapiert seien. Es gilt das ärztliche Primat, nicht zu schaden. Aber auch nichts zu tun, kann unter Umständen schaden.. Er zitierte Daten aus einer Studie von Bruce Walker, wonach auch Longterm-Nonprogessoren und sogar Elite-Controller deutlich erhöhte gesundheitliche Risiken im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben – vor allem im Bereich der Herz-/Kreislauferkrankungen und der Krebserkrankungen). Er konnte die Frage mangels Daten nicht beantworten, aber er ist eher der Überzeugung, dass eine Nicht-Therapie auch bei Patienten ohne nachweisbare Viruslast über dem Umweg des systemischen inflammatorischen Prozesses langfristig mehr Schaden als Nutzen anrichtet.

    Stellbrink warnte, antiretrovirale Medikamente haben Nebenwirkungen. Je länger sie eingesetzt werden, desto mehr Dinge tauchen auf, die niemand für möglich gehalten hätte. Er erinnerte an die eingewachsenen Zehnägel unter Crixivan oder die Lipodystrophie.

    Wicht fragte nach, ob – angesichts der Tatsache, dass die HIV-Therapie ja wohl lebenslang eingenommen werden müsse – die vier oder fünf Jahre mehr Therapie bei einem sofortigen Therapiebeginn, einen wirklichen Unterschied ausmache würden.

    Stellbrink und Scholten meinten, dass es eher weniger Jahre seine, eher zwei oder drei in Deutschland und waren eigentlich der Überzeugung, dass es in den meisten Fällen eigentlich eher keinen großen Unterschied macht. Allerdings sind gerade die ersten beiden Jahre unter Therapie die wirklich bedeutenden, in denen sich entscheidet, ob der Patient die Therapie dauerhaft verträgt, einnehmen kann und dergleichen. Auch Resistenzen entstünden, so Stellbrink, eher in diesem Zeitraum. Danach laufe die Therapie eigentlich relativ unkompliziert.

    Aus dem Publikum wurde noch mal darauf hingewiesen, dem Patienten die Zeit zu lassen, die sie benötigen, sich mit ihrer Diagnose auszusöhnen, anstatt in einer solchen Situation von Überforderung mit diesem kurzen Zeitfenster Patienten noch weiter zu überfordern und sie in die Therapie zu drängen. Ebenso, wie den Patienten auch Therapie zu verschreiben, die (eher aus psychischen Gründen) eine wollen, auch wenn die Werte ein Abwarten zulassen würden.

    Scholten merkte an, dass die Realitäten sind, wie sie sind. Auch bei einem Trauerfall müssen innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen getroffen werden und man kann nicht vier Wochen den Kopf in den Sand stecken. In der primären HIV-Infektion gibt es halt auch nur ein sehr kurzes Zeitfenster. Es geht ihm darum, diese Option mit dem Patienten durchzudiskutieren, die Entscheidung verbleibt beim Patienten. Da eine Therapie aber natürlich später wieder abgebrochen werden kann, ist eine solche Entscheidung, wenn sie sich als nicht tragfähig herausstellte, ja revidierbar. Eine Nicht-Therapie in dieser Phase ist nicht revidierbar.

  • Wicht schloss die Veranstaltung mit der Frage an Scholten und Stellbrink, wie sie sich verhalten würden, wenn sie selbst in der Situation einer ganz frischen HIV-Infektion wären.

    Stellbrink meinte, wenn er sehr krank wäre, würde er sofort anfangen, er würde aber auch mit einer Therapie beginnen, wenn er nicht krank wäre. Trotzdem er hier die Gegenthese habe vertreten müssen, sei der persönlich doch der Überzeugung, dass die Waagschale einen Hauch zugunsten der Frühtherapie-Position geneigt sei.

    Scholten betonte noch einmal, dass er hier seine tiefste Überzeugung vorgetragen habe. Er erkannte an, dass diese Frage in der deutschen Behandlerszene eine sehr heiß und kontrovers diskutierte Position sei. Er würde sofort mit der Therapie anfangen mit oder ohne Symptome, in jedem Fall das Zeitfenster nutzen! Und lebenslang keinen einzigen Tag mehr absetzen.