Langzeittherapie und ihre Folgen - Gesundheitliche und sozio-ökonomische Aspekte der HIV-Therapie

Gute Behandlungsmöglichkeiten und Entängstigung in den Botschaften über die Infetktiösität von HIV-Positiven prägen unsere Zeit. Aber wie sieht es mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Positiven wirklich aus? Sind sie "sexyer" denn je und helfen all die vermeintlichen Verbesserungen? Oder sieht die Wirklichkeit ganz anders aus? Der Ruf nach „guter Lebensqualität“ einerseits und die steigende Anzahl von Hilfeanfragen andererseits scheinen nicht zusammenzupassen...oder doch?

  • Die Referenten waren Michael Jähme von der AIDS-Hilfe Wuppertal e.V. und Dr. Volker Mertens, Deutsche AIDS-Stiftung, Bonn. Die Moderation führte Dr. Viviane Brunne, United Nations Economic Commission for Europe (UNECE), Genf .

  • Moderne antiretrovirale Therapien ermöglichen den HIV-infizierten Menschen ein längeres Leben. Die dauerhafte Einnahme der Medikamente führt jedoch zunehmend zu Nebenwirkungen, die Gesundheit, Lebensqualität und Erwerbsfähigkeit der Betroffenen belasten. Das geringe Einkommen oder die staatliche Grundsicherung reicht für erkrankte Menschen oftmals nicht aus, selbst die täglichen Bedürfnisse zu decken.

    Immer mehr HIV-Infizierte geraten daher in finanzielle Not. Zudem verfügen die meisten HIV-positiven Menschen aufgrund ihrer Biografie über keine familiären Netzwerke, die Unterstützung oder sogar Pflege leisten könnten. Die Folgen davon sind Ausgrenzung und soziale Isolation. Das Älterwerden von Menschen mit HIV und Aids stellt die Gesellschaft daher vor unterschiedliche Herausforderungen.

  • Die Mehrzahl der HIV-Infizierten in den Industrieländern stirbt heute dank der effektiven Medikation nicht mehr an, sondern mit Aids. Der Gewinn an Lebenszeit ist ohne Zweifel eine medizinische Erfolgsgeschichte. „Doch Gesundheit ist mehr als Pillen einnehmen. Nicht nur der Körper der Patienten benötigt eine Kontrolle der Viruslast, auch die Psyche braucht Unterstützung, um dem Leben ein möglichst großes Maß an Normalität zurückzugeben“, betonte Michael Jähme. Menschen mit HIV und Aids seien dann vitaler geworden, wenn es ihnen gelungen ist, die medizinischen Fortschritte auch auf ihre Selbstwahrnehmung und ihr Selbstbewusstsein zu beziehen. Immer noch behinderten falsche Vorstellungen und Vorurteile der Bevölkerung über die Infektionskrankheit die betroffenen Menschen in ihrer Lebensentfaltung. Dies treffe besonders auf die Teilhabe am Erwerbsleben zu. „HIV-Positive brauchen ein Klima in der Gesellschaft, das es ihnen ermöglicht, auch mit HIV und Aids diskriminierungsfrei zu arbeiten und in ihrem tatsächlichen Leistungsvermögen gesehen zu werden“ sagte Jähme.

    Ein großer Teil der HIV-Infizierten, die heute älter als 50 Jahre sind oder schon länger mit HIV oder medikamentenbedingten Behinderungen leben, können allerdings nicht mehr arbeiten, sie leben von Sozialleistungen. „Für viele reicht das verfügbare Geld aber nur, um den unmittelbaren Lebensunterhalt zu decken“ sagte Jähme und forderte, dass „der Regelsatz zur Grundsicherung bei chronisch Kranken den tatsächlichen Lebenshaltungskosten und deren zusätzlichen Bedarf angepasst werden muss.“

    Die Abschottungstendenz der Sozialleistungsträger, Rechtsansprüche verwaltungstechnisch zu komplizieren und zunächst abzuweisen und erst im Widerspruch anzuerkennen, sei menschenunwürdig und lasse viele Menschen mit HIV und Aids ohne Unterstützung von Beratungsstellen und Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen am Sozialsystem scheitern. “Was die HIV-Forschung durch Therapierbarkeit an Lebensqualität zurückerobert, wird durch die politisch gewollte Entsolidarisierung der Sozialsysteme und des Gesundheitssystems für Menschen mit HIV und Aids sowie andere chronisch Kranke wieder zunichte gemacht.“

  • Mit der finanziellen Notlage HIV-infizierter Menschen werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung täglich konfrontiert. „Viele Betroffene, die sich an die Deutsche AIDS-Stiftung wenden, leben im Wesentlichen von staatlichen Leistungen. Aber auch, wenn sie noch ein Einkommen haben oder Rente beziehen, reicht das Geld häufig nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten“, sagte Dr. Volker Mertens. In vielen Fällen fehle es an grundlegenden Dingen wie Matratzen, Möbel, Bekleidung oder Brillen. „Die Stiftung muss immer häufiger helfen, um akute Notlagen zu lindern. Es fehlt an Geld für eine Heizkostennachzahlung, an dem Ersatz für einen defekten Kühlschrank oder am Geld für eine krankengerechte Matratze“, so Mertens. Hier reichten oft schon kleine Beträge, um individuell wirkungsvoll helfen zu können.

    Nach Angaben von Mertens sind seit Gründung der Stiftung im Jahr 1987 rund 64.000 Anträge eingegangen und den Betroffenen konnte mit insgesamt 37 Millionen Euro geholfen werden. Es gibt zwei große Felder der Hilfe: Die direkte materielle Unterstützung für Einzelpersonen und Familien in Notlagen und die Förderung nachhaltiger Projekte.

    „Wenn HIV-positive oder an Aids erkrankte Menschen in Not geraten sind prüfen wir, ob Bedürftigkeit vorliegt, und geben einmalige finanzielle Beträge, die in der Regel so um die 300 Euro liegen; hinterher bekommen wir die Quittungen über angeschaffte Gegenstände. Das machen wir circa 3.700 mal im Jahr.“ Darüber hinaus fördert die Stiftung Hilfsprojekte für Betroffene, das sind vor allen Dingen betreute Wohnprojekte wie in Koblenz, Essen und Berlin.

    In den letzten Jahren beobachtet die Deutsche AIDS-Stiftung folgende Veränderungen:

    • Der Anteil der Antragstellenden, die nicht in Deutschland geboren sind, nimmt zu. Die Hilfesuchenden stammen aus mehr als 120 Ländern, auch wenn viele bereits in Deutschland ihre Heimat gefunden haben.
    • Laut Robert-Koch Institut liegt der Anteil HIV-infizierter Frauen bei 17 Prozent, bei der Stiftung sind 33 Prozent der Antragstellenden Frauen. „Der hohe Frauenanteil verweist auf die besonders schwierige soziale Situation HIV-positiver Frauen, die oft noch durch die Sorge um den Unterhalt ihrer Kinder verschärft wird“, so Mertens.
    • Die größte Gruppe der Antragstellenden sind Frauen aus Subsahara-Staaten
    • Das Durchschnittsalter der Antragstellenden nimmt zu. Der Anteil der Hilfesuchenden zwischen 40 und 49 Jahren (40,7 Prozent) sowie zwischen 50 und 59 Jahren (11,9 Prozent) hat sich seit 1999 mehr als verdoppelt.
    • Die Stiftung verzeichnet einen deutlichen Anstieg von Anträgen für Gegenstände, die nicht mehr staatlich finanziert werden. „Inzwischen wird ein hoher Anteil des Gesamtbudgets für frühere Leistungen des Staates oder der Krankenkassen aufgewandt. Die Stiftung kann diese Defizite auf Dauer nicht ausgleichen“, kritisierte Mertens.

    Weitere Infromationen zu diesem Themenkomplex finden Sie unter www.aids-stiftung.de.

  • Menschen mit HIV und Aids leiden nicht nur unter den gesundheitlichen Auswirkungen der Infektion, sie sind auch besonders häufig von Armut betroffen.

    Das Netz an Beratungsstellen für HIV-Positive und an Aids erkrankte Menschen muss erhalten und fachlich weiterentwickelt werden.

    Der Regelsatz zur Grundsicherung muss den tatsächlichen Lebenshaltungskosten und bei chronisch Kranken deren zusätzlichen Bedarfen angepasst werden.

    Der Aufbau neuer Wohnformen mit Betreuung muss für Menschen mit HIV und Aids vorangetrieben werden.

    Stiftungen können auf Dauer nicht die finanzielle Verantwortung des Staates für hilfsbedürftige Menschen übernehmen.

  • Die Präsentation zum Vortrag von Dr. Volker Mertens finden Sie hier (PDF-Datei). Das Skript zu seinem Vortrag finden Sie hier (PDF-Datei).Weitere ausführliche Informationen zum Redebeitrag von Michael Jähme finden sie unter termabox.wordpress.com.