Strafrechtliche Bewertung der HIV-Übertragung: allein schuldig oder gemeinsam verantwortlich?

Ob die bisherige strafrechtliche Bewertung der HIV-Übertragung bei einvernehmlichem Sex auch in Zukunft haltbar ist, steht in Frage. Viele ganz unterschiedliche Aspekte prägen die aktuelle Debatte zur Kriminalisierung der HIV-Übertragung: Soll die HIV-Übertragung weiterhin strafrechtlich verfolgt werden können, die HIV-Exposition aber nicht? Ist die strafrechtliche Verfolgung der HIV-Übertragung als Köperverletzungsdelikt ausreichend oder soll ein neuer Straftatbestand geschaffen werden?

Vor allen Details muss jedoch die grundsätzliche Frage beantwortet werden: Muss der Staat seine HIV-negativen Bürgerinnen und Bürger besonders schützen oder müssen diese die Verantwortung für einvernehmlichen Sex nicht selbst übernehmen und das Risiko gemeinsam tragen?

(Zusammenfassung der Kontroverse 7: Claudia Kannen)

  • Referentin und Referent der Kontroverse waren Oberstaatsanwältin Margarete Heymann, Staatsanwaltschaft Köln, un der Kölner Rechtsanwalt Jacob Hösl.

  • Das Strafrecht dient neben dem Schutz anderer Rechtsgüter auch dem Schutz von Leben und Gesundheit. Daher findet es auch in diesem Bereich seine Anwendung, denn es soll einerseits Menschen davor bewahren, unwissentlich infiziert zu werden, andererseits soll es klarmachen, dass es sich bei einer Ansteckung durch ungeschützten Geschlechtsverkehr um den Tatbestand  einer versuchten oder vollendeten gefährlichen Körperverletzung handelt. Die Tatherrschaft ist eindeutig den HIV-Infizierten zuzuordnen, denn diese tragen grundsätzlich die Verantwortung für sich und ihre Sexualpartnerinnen und Sexualpartner. Alles andere wäre ein völlig falsches Signal im Kampf gegen die Verbreitung von HIV.

    Oberstaatsanwältin Margarete Heymann, Staatsanwaltschaft Köln

  • Die strafrechtliche Verfolgung ist als Präventivmaßnahme nicht geeignet, dies belegen zahlreiche Studien. Repressionen schrecken gerade die hauptsächlich von HIV betroffenen Gruppen der Männer, die Sex mit Männern haben, und Menschen mit Migrationshintergrund von einem HIV-Test ab und stehen somit einer erfolgreichen Prävention entgegen. Eine strafrechtliche Verfolgung kriminalisiert die HIV-Infizierten, da sie einen Verletzungsvorsatz unterstellt und die tatsächlichen Gründe für ein Verschweigen der Infektion außer Acht lässt.

    Jacob Hösl, Rechtsanwalt, Köln

  • Die Frage, ob der Staat seine HIV-negativen Bürgerinnen und Bürger besonders schützen müsse, findet derzeit eine hohe mediale Aufmerksamkeit, obwohl wenige Fälle vor den deutschen Gerichten verhandelt werden.

    Staatsanwältin Margarte Heymann verteidigt die strafrechtliche Verfolgung zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger und stellt fest, dass es solange es keine Heilung gebe, bliebe sowohl die wissentliche HIV-Übertragung als auch HIV-Exposition bei einvernehmlichen Sex strafrechtlich relevant. Da jeder Mensch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hat, löst dessen Gewährleistung entsprechende Pflichten seitens des Staates aus.

    Dies beträfe nicht nur die HIV-Infektion. Auch die Übertragung anderer lebensbeeinträchtigenden Infektionskrankheiten werden im Fall einer bewussten Ansteckung  als „Gesundheitsschädigung“ betrachtet und vom Gesetzgeber als „Körperverletzung“ geahndet und bestraft, so Heymann.

    Eine höchstrichterliche Verfügung des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1988 besagt, dass der ungeschützte Sexualverkehr HIV-positiver Menschen ohne Krankheitswissen seiner Sexualpartnerin oder seines Sexualpartners den Tatbestand der „Gefährlichen Körperverletzung“ erfüllt und mit einem Strafmaß von bis zu zehn Jahren geahndet werden kann. Das schließt laut BGH auch den einmaligen Verkehr ein. HIV-Positive verfügen über ein „überlegenes Sachwissen“, was sie als Verantwortliche bei einvernehmlichem Sexualverkehr auszeichnet.

    Juristisch hat sich seitdem nichts geändert, medizinisch sehr wohl. Seitdem durch eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie bei Menschen mit HIV die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesenkt werden kann und diese somit nicht mehr infektiös sind, gibt es keine entsprechend aktualisierte Gesetzgebung dazu. Die Gerichte entscheiden in diesen Fällen nicht einheitlich. Eine wichtige Rolle hierbei spielen die medizinischen Gutachterinnen und Gutachter.

    Die strafrechtliche Verfolgung der Exposition und erfolgreichen Übertragung habe neben dem Aspekt der Bestrafung auch eine präventive Wirkung zu entfalten und dafür Sorge zu tragen, dass Menschen mit HIV verantwortungsbewusst mit dem Wissen um die eigene Infektion umgehen und sich entsprechend verhalten. Das heißt, den vermeintlich unwissenden Partner oder die vermeintlich unwissende Partnerin über den eigenen HIV-Status zu informieren und entsprechend Safer Sex (Kondome benutzen) zu praktizieren.

    Margarete Heymann macht deutlich, dass es somit im Bereich von HIV keine Kriminalisierung durch das deutsche Strafrecht gebe; in diesem Kontext werde lediglich das geltende Gesetz angewendet.

    Dem widerspricht Jacob Hösl ganz entschieden und zeigt anhand von Beispielen, dass es bereits 1988 beim BGH schon dreimal zu einer HIV-bezogenen Sonderauslegung des Gesetzes gekommen sei.

    Bisher galt der Grundsatz, dass es auf die „Gefährlichkeit der Handlung“ ankomme. Da Sexualität grundsätzlich nicht als gefährlich angesehen wird, hat man den Grundsatz dahingehend geändert, dass nunmehr die „Gefährlichkeit des Erfolges“ im Fokus steht. Dies findet jedoch nur bei HIV eine Anwendung, die Lebensbedrohlichkeit der Infektion ist hierbei das entscheidende Argument für die „das Leben gefährdende Behandlung“.

    Auch der „Vorsatz“ wurde vom BGH anders ausgelegt. Auch wenn die einzelne Handlung für sich ungefährlich sein mag, so berge sie doch das „Risiko der Tatbestandsverwirklichung“. Soll heißen: Der oder die Angeklagte nehme eine potenzielle Infektion allein schon dadurch billigend in Kauf, weil ein potenzielles Risiko bestünde.

    In einem weiteren verhandelten Fall empfahl ein damals konsultierter Tropenarzt einem Infizierten allein das Kondom als sicheres Präventionsinstrument beim Oralverkehr. Der HIV-Positive hatte sich jedoch erkundigt und herausgefunden, dass keine Gefahr einer HIV-Übertragung bestünde, wenn er nur außerhalb der Mundhöhle ejakuliere. Der BGH legte jedoch das Statement des Arztes als strafbegründend zugrunde und folgte damit dessen Irrtum.

    Die derzeit geltende Gesetzgebung kann laut Hösl keinen erfolgreichen Beitrag zur HIV-Prävention leisten. Im Gegenteil, es steht eher zu befürchten, dass sich weniger Menschen testen lassen, wenn jede einvernehmliche sexuelle Handlung das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung birgt.

    Auch die Botschaft, dass der Staat mit seinen strafrechtlichen Mitteln Infektionen verhindern könne, hält Jacob Hösl allein schon deshalb für nicht haltbar, weil der Großteil der Neuinfektionen zu einem Zeitpunkt erfolgt, wo noch kein Wissen über die eigene Infektion vorhanden ist.

    Inzwischen stellt sich heraus, dass die strafrechtliche Verfolgung, , nicht nur für die „Täter“, sondern auch für die „Opfer“ mittel- bis langfristig negative Folgen hat. Denn auch sie werden stigmatisiert und müssen bald erkennen, dass sie nach dieser Logik zukünftig zu „Tätern“ werden. Die Opfer fänden somit laut Jacob Hösl keinerlei Genugtuung.

    Die harte Haltung der Justiz entspräche dem Gerechtigkeitsgefühl einer deutlichen Mehrheit. Wird HIV beim Sex weitergegeben, so eine weit verbreitete Haltung, seien vor allem jene Schuld, die das Virus schon hätten. „Man erwartet von einem HIV-positiven Menschen, dass er sich offenbart“, sagt der Jacob Hösl. „Das Unerhörte, was in solchen Fällen den Impuls nach Ahndung auslöst, das ist im Grunde die Lüge, die Unaufrichtigkeit.“ Doch Hösl fordert hier Nachsicht. Ein Mensch mit HIV könne gerade in den entscheidenden Situationen gar nicht offen über seine HIV-Infektion sprechen. „Die Gerichte ignorieren zumeist, dass Menschen mit HIV in unserer Gesellschaft starker Diskriminierung ausgesetzt sind, die bis in die intime soziale Privatsphäre reicht. Hierzu trägt auch die generelle Kriminalisierung bei.“

    Im Hinblick auf die neue medizinische Entwicklung kann die vorhandene Rechtsprechung nicht mehr genügen. Die Krankheit muss nicht mehr tödlich sein und sollte daher nach Jacob Hösl auch nicht mehr als eine „das Leben gefährdende Behandlung“ eingestuft werden.

    Am Ende seines Vortrages spricht er die Wahrscheinlichkeit der bewussten Ansteckung an. Man weiß heute, dass eine Infektion nur schwerlich bewusst herbeigeführt werden kann. Dies bedeutet, dass die angesprochenen Fälle in der Realität kaum auftreten.

    Genugtuung, so Frau Heymann, empfänden die Frauen, die bewusst angesteckt wurden, durch eine Verurteilung sehr wohl. Und auch die tödliche Gefahr hinter der Infektion mag sie nicht verneinen, denn unbehandelt kann Aids nach wie vor zum Tode führen. Insofern verteidigt sie die Einstufung der HIV-Infektion in die Kategorie einer „das Leben gefährdenden Behandlung“.

    Die bewusste Gefährdung räumt sie hingegen als selten ein, jedoch sind solche Fälle existent und bedürfen der Bestrafung durch entsprechende rechtliche Sanktionen.

    Eine Frage aus dem Publikum betrifft den Fall der Fahrlässigkeit im Gegensatz zum vorsätzlichen Handeln. Hierzu antwortet Hösl ganz klar, dass in Deutschland grundsätzlich von einem Vorsatz ausgegangen wird. Die infizierte Person verfügt über ein tatbeherrschendes Wissen und ist damit in der Überlegenheit.

    Zur letzten Aussage meldet sich ein Teilnehmer und stellt die Frage, warum nur eine Seite die Verantwortung tragen solle. Denn dass Sexualverkehr Risiken beinhalten kann, sollte heute jedem bekannt sein. Bei einvernehmlichem Sex sollte doch jede Person für sich selbst verantwortlich agieren. Frau Heymann fragt, warum denn die HIV-positive Person ihre Infektion nicht anspricht. Darauf findet sich schnell eine Antwort aus dem Publikum: Wenn eine bekannte HIV-Infektion in Deutschland keine Nachteile mehr mit sich bringen würde, dann wäre es einfach. So sei es aber nicht. Diskriminierung und Stigmatisierung gehören nach wie vor zum Alltag eines Menschen mit HIV. Hier sollte die Gesetzgebung aktiv werden und mit Anti-Diskriminierungsgesetzen einschreiten.

    Einer weiteren Wortmeldung aus dem Auditorium ist zu entnehmen, dass die Rechtsprechung von HIV-Positiven oft als Mahnung zu „richtigem Verhalten“ empfunden werde. Auch dies werde als diskriminierend empfunden. Von einer Fahrlässigkeit der HIV-negativen Person sei in der Regel jedoch kaum die Rede. Wenn doch, könne sie sich maximal auf die Höhe des Strafmaßes auswirken, nicht aber auf die „Schuldfrage“, so Frau Heymann.

    Eine weitere Meldung betrifft den Aspekt, dass eine infizierte Person, zusätzlich zu ihrer Krankheitsbewältigung und der Stigmatisierung, auch noch das Denken für den Sexualpartner oder die Sexualpartnerin übernehmen solle. Dieser zusätzliche Anspruch, gemeinsam mit dem Signal der Gesetzgebung, dass bei Unwissenheit eine Exposition oder Übertragung von HIV strafrechtlich irrelevant sei, verringere die Bereitschaft, sich (nach Risikokontakten) auf HIV testen zu lassen und verhindere somit auch die Möglichkeit, frühzeitig oder rechtzeitig mit einer antiretroviralen Therapie beginnen zu können.

    Ein Herr aus dem Saal gibt ferner zu bedenken, dass im Ringen um eine sexuelle Gesundheit auch stets „das Risiko eines Absturzes“ impliziert ist. Das muss der Bevölkerung bewusst gemacht werden, denn es geht darum, dieses Risiko solidarisch zu tragen.

  • Wie kann der BGH in das veränderte Wissen von heute eingebunden werden? Dies ist eine Kernfrage der Diskussion, denn die Gesetzgebung von 1988 wird unverändert angewandt. Veränderungen in der Medizin fließen über Gutachten von Sachverständigen in die Rechtsprechung ein. Juristinnen und Juristen sind somit auf eine kompetente Hilfestellung seitens der Medizin angewiesen, um das Strafrecht an die aktuellen medizinischen Entwicklungen anpassen zu können. Die derzeit erstellten Gutachten sind jedoch nicht einheitlich und lassen zu viel Ermessensspielraum zu. Eine fachliche Auseinandersetzung von Medizin und Gesetzgebung sollte folglich besser und konsequent ausgebaut werden.

    Die „Schuldfrage“ konnte in dieser Diskussionsrunde nicht abschließend geklärt werden.